Ein kurzer Eintrag in Brechts Notizbuch aus dem Jahr 1941 besagt: “Le[e] Masters epigramme als film. die personen der kleinen stadt rezitieren.” Die Notiz hält ein Vorhaben von Brecht fest, die 1916 veröffentlichte Spoon River Anthology des amerikanischen Schriftstellers Edgar Lee Masters (1869–1950) als Film umzusetzen. Eine Begegnung zwischen beiden war dann in den Jahren 1944/45 geplant und sogar von Brechts Freund und “amerikanischem Mentor” Ferdinand Reyher in die Wege geleitet, fand jedoch nie statt. Masters wurde zu der Zeit in ein Krankenhaus in New York eingeliefert, in dem er für Lungenentzündung und Unterernährung behandelt wurde. Der wichtigste Grund, dass das Projekt wie das Hornberger Schießen ausging, war Masters’ Armut: er konnte sich die Eisenbahnfahrt zur Westküste nicht leisten, berichtete Reyher, nachdem er den amerikanischen Schriftsteller und Anwalt ausfindig gemacht hatte. In seiner Studie Bertolt Brecht in Amerika (1980/84) behauptet James K. Lyon, Brecht habe die Rückmeldung seines Freundes missverstanden und sich eine ihm passende story ausgedacht, nämlich, dass Masters völlig verarmt in ein Altersheim eingewiesen worden sei. Brecht sei empört darüber gewesen, so Helene Weigel später, “wie das kapitalistische Amerika seine großen Dichter behandele.”
Kurz nach Brechts Rückkehr nach Berlin wurde dem Projekt jedoch aufs Neue Leben eingehaucht, nämlich nachdem Günter Kunert eine Anzahl von Gedichten aus Masters’ erfolgreichstem Werk, das 1924 in deutscher Übersetzung als Die Toten von Spoon River bekannt werden sollte, übertragen hat. Er legte es Brecht vor, der dann mit roter Tinte Verbesserungsvorschläge machte. Diese Blätter werden hier zum ersten Mal veröffentlicht. Sowohl für Brecht als auch den jungen Kunert war die (wenn auch in Wirklichkeit nie zustande gekommene) Begegnung mit Masters und seinen Versen wichtig. Das Bindeglied der Dreierkonstellation Brecht–Masters– Kunert ist morbider Art, nämlich durch ihrer aller Vorliebe für Epigramme und Epitaphien. Masters’ Spoon River Anthology besteht aus 212 kurzen Grabinschriften der Toten des fiktiven Dorfes Spoon River, so genannt nach dem Fluss Spoon, der in der Nähe des Geburtsorts von Masters, Lewistown im Bundesstaat Illinois, fließt. Die Epitaphien werden selbst von den Toten gesprochen und sollen das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt satirisch darstellen.